The Year 2017
A Collective Chronicle of Thoughts and Observations

Welcome to what is going to be a collective chronicle of the year 2017! This journal will follow the general change that we experience in our daily lives, in our cities, countries and beyond, in the political discourses and in our reflections on the role of artists and intellectuals. Originating from several talks and discussions with fellow artists and thinkers FFT feels the strong need to share thoughts and feelings about how we witness what is going on in the world. Week after week different writers, artists, thinkers and scientists will take the role of an observer as they contribute to this collective diary.

#1 January 1st - 8th Jacob Wren

#2 January 9th - 15th Toshiki Okadajapanese version

#3 January 16th - 22nd Nicoleta Esinencuromanian version

#4 January 20th - 30th Alexander Karschnia & Noah Fischer

#5 January 30th - February 6th Ariel Efraim Ashbel

#6 February 6th - 12th Laila Soliman

#7 February 13th - 19th Frank Heuel – german version

#9 February 26th - March 5th Gina Moxley

#10 March 6th - 12th Geoffroy de Lagasnerie – version française

#11 March 13th - 19th Agnieszka Jakimiak

#12 March 20th - 26th Yana Thönnes

#13 March 30th - April 2nd Geert Lovink

#14 April 3rd - 9th Monika Klengel – german version

#15 April 10th - 16th Iggy Lond Malmborg

#16 April 17th - 23rd Verena Meis – german version

#17 April 24th - 30th Jeton Neziraj

#20 May 15th - 21st Bojan Jablanovec

#21 May 22nd - 28th Veit Sprenger – german version

#22 May 29th - June 4th Segun Adefila

#23 June 5th - 11th Agata Siniarska

#25 June 19th - 25th Friederike Kretzengerman version

#26 June 26th - July 2nd Sahar Rahimi

#27 July 3rd - 9th Laura Naumanngerman version

#28 July 10th - 16th Tom Mustroph – german version

#29 July 17th - 23rd Maria Sideri

#30 July 24th - 30th Joachim Brodin

#33 August 14th - 20th Amado Alfadni

#35 August 28th - September 3rd Katja Grawinkel-Claassen – german version

#38 September 18th - 24th Marcus Steinweg

#43 October 23rd - 29th Jeannette Mohr

#44 May/December Etel Adnan

#45 December 24th - 31st Bini Adamczak

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10.6. #future politics No3 Not about us Without us FFT Juta

Geoffroy de Lagasnerie Die Kunst der Revolte

21.1. #future politics No1 Speak TRUTH to POWER FFT Juta

Mark Fisher
We are deeply saddened by the devastating news that Mark Fisher died on January 13th. He first visited the FFT in 2014 with his lecture „The Privatisation of Stress“ about how neoliberalism deliberately cultivated collective depression. Later in the year he returned with a video-lecture about „Reoccupying the Mainstream" in the frame of the symposium „Sichtungen III“ in which he talks about how to overcome the ideology of capitalist realism and start thinking about a new positive political project: „If we want to combat capitalist realism then we need to be able to articulate, to project an alternative realism.“ We were talking about further collaboration with him last year but it did not work out because Mark wasn’t well. His books „Capitalist Realism“ and „The Ghosts of my Life. Writings on Depression, Hauntology and Lost Future“ will continue to be a very important inspiration for our work. 

Podiumsgespräch im Rahmen der Veranstaltung "Die Ästhetik des Widerstands - Zum 100. Geburtstag von Peter Weiss"

A Collective Chronicle of Thoughts and Observations ist ein Projekt im Rahmen des Bündnisses internationaler Produktionshäuser, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

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#45 December, 24th – 31st
Bini Adamczak

Where Are We Now?

Where Are We Now, fragt David Bowie im gleichnamigen Lied, das mit dem Potsdamer Platz in Berlin beginnt – jenem versiegelten Unort, dessen teilprivatisierte Öffentlichkeit sich nur in Eile passieren lässt. Als hätte der Westen mit einigen verkleinerten Nachbauten aus New York und einer einsamen Shopping-Mall nachträglich noch seine städteplanerische Unterlegenheit gegenüber der in dieser Hinsicht schon schwachen Konkurrenz des Alexanderplatzes demonstrieren wollen. Had to get a train - from Potsdamer Platz, ist folgerichtig der einzige Satz, den Bowie über diesen Ort verliert, an dem wir eben nicht sein können. Im dunklen und verhangenen Dezember noch weniger als in anderen Monaten. As long as there`s rain.

As long as there`s sun. Die Sunna, wie sie in dieser Gegend der Welt vor etwa tausend Jahren noch genannt wurde, bildet das Zentrum unseres Sonnensystems. Sie beinhaltet 99,86 Prozent der gesamten Masse dieses Systems, und das obwohl zu den acht Planeten, die sie umkreisen, auch der Jupiter gehört, der alleine eine doppelt so große Masse aufweist wie die anderen Planeten zusammen. Bereits 1664, vor dreieinhalb Jahrhunderten, entdeckten Menschen, die den Jupiter durch Ferngläser beobachteten, einen roten Fleck auf seiner Oberfläche. Dieser rote Fleck, der zwei- bis dreimal die Größe der Erde hat, stellte sich später als Hurricane heraus. Ein Hurricane, der bereits tobte, als die britischen Kolonisatorinnen Nieuw Amsterdam eroberten und in New York umbenannten, und der seitdem nicht aufgehört hat, zu toben. As long as there`s fire. Dennoch ist der Jupiter klein und leicht im Vergleich zur Sonne, die ihn in ihrem Durchmesser um ein zehnfaches und in ihrer Masse um ein tausendfaches übersteigt. Die Photonen, die Lichtteilchen, die die Oberfläche der Sonne verlassen, brauchen 8 Minuten um die 150 Millionen Kilometer zur Erde zu durchqueren. Sie brauchen aber zwischen 10 Tausend und 17 Millionen Jahre, um vom dichten Sonnenkern, wo sie entstehen, zur Oberfläche zu gelangen. Altes Licht.

Where Are We Now? Unser Sonnensystem ist Teil der Milchstraße, in deren äußerem Drittel es liegt. Es ist eines von 100 bis 300 Milliarden Sonnensystemen dieser Galaxie, die sich mit einem Durchmesser von etwa hunderttausend Lichtjahren im Universum ausdehnt. Unser allernächster Nachbar in der Milchstraße, der Rote Zwerg Proxima Zentauri, ist allerdings gerade mal vier Lichtjahre entfernt. Er wird ebenfalls von einem Planeten umkreist, dessen Mindestmasse ungefähr derjenigen der Erde entspricht und der prinzipiell als bewohnbar gilt. Hier könnte ein Besuch lohnen. Etwa mit der Raumsonde Voyager, die sich von allen von Menschen geschaffenen Objekten bisher am weitesten in den Kosmos hervorgewagt hat. Im September 1977 startete sie von der Erde und hat im August 2012 unser Sonnensystem verlassen. Though I'm past one hundred thousand miles, I'm feeling very still. And I think my spaceship knows which way to go, heißt es in Bowies Space Oddity von 1969, die also nicht von einer Odyssee handelt, sondern von einer seltsamen Erfahrung des Raums. Beladen ist die Voyager unter anderem mit einer goldenen Bild- und Schallplatte, die den Planeten vorstellen soll. Die Platte enthält eine Ortsbeschreibung von Erde und Sonnensystem, Grußbotschaften in 55 Sprachen, Geräusche von Wind und Donner, 27 Musikstücke, von denen alleine drei von Johann Sebastian Bach stammen, sowie eine Gebrauchsanleitung für den Plattenspieler. Ausgerechnet der frühere Wehrmachtsoffizier Kurt Waldheim sprach in seiner Funktion als UNO Generalsekretär die Audiobotschaft an die außerirdische Welt ein – Nazis in Space. Als Vorsitzender einer Organisation, die beinahe alle Bewohnerinnen der Erde repräsentiert, sendete er Grüße: „We step out of our solar system into the universe seeking only peace and friendship, to teach if we are called upon, to be taught if we are fortunate. We know full well that our planet and all its inhabitants are but a small part of the immense universe that surrounds us and it is with humility and hope that we take this step.” Da die Voyager von einer Atombatterie betrieben wird, bewegt sie sich mit einer Geschwindigkeit von 61.000 Kilometern pro Stunde durch den Raum. Bei diesem Tempo bräuchte sie um unseren allernächsten Straßennachbarn zu erreichen schlappe 75 Tausend Jahre. Hätten Homo Sapiens irgendwann während der letzten Kaltzeit eine Rakete ins Weltall geschossen statt Beeren zu sammeln, wären wir jetzt vielleicht schon da. Ground Control to Major Tom.

2017, dieses Jahr, ist das Jahr des hundertjährigen Jubiläums der Russischen Revolution, die nie eine Revolution von oder für Russland sein wollte. Die Einladung zu einer besseren Zukunft ohne Herrschaft von Menschen über Menschen sprach sie an die ganze Erde aus. Sie beabsichtigte, wie es in der der Internationale heißt, eine Welt zu schaffen, in der die Sonn` ohn` Unterlass scheint. Die Sowjetunion, die aus der Revolution hervorging, wurde nie zu der Union der Räte, die sie zu sein behauptete. Aber sie enthielt, vor allem in ihren ersten Jahren, noch die Möglichkeit hierfür. 74 Jahre später löste sie, deren Namen keinerlei Hinweis auf irgendein nationales Territorium enthielt, sich auf. Damit endete, wie die Sieger des Kalten Krieges proklamierten, die Geschichte. Der liberale Kapitalismus sollte deren letztes Wort abgeben. Planet Earth is blue And there's nothing I can do. Vor zehn Jahren dann, 2007, stürzte der Kapitalismus in eine der schwersten Wirtschaftskrisen seiner Geschichte, die bald darauf auch zur Legitimationskrise für ihn wurde. Der Arabische Frühling 2011 beendete das Ende der Geschichte. Zahlreiche Revolution, Revolten, Besetzungen und Bewegungen überwanden mühelos nationale Grenzen und setzten die Hoffnung auf Freiheit, Gleichheit, Solidarität wieder auf die Tagesordnung. Zuletzt zeigte sich diese Hoffnung 2016 in der Nuit debout, in der wachen Nacht von Paris. Seitdem jedoch haben vor allem die reaktionären Krisenlösungsstrategien – Rassismus, Sexismus, Nationalismus – an Macht gewinnen können. Die Geschichte kehrt als Neuaufführung ihrer rückwärtsgerichteten Bewegungen wieder.

A man lost in time Near KaDeWe. Im Umkreis von 2.000 Kilometern um den Potsdamer Platz herum, nach Westen noch weiter, ist die mit Abstand grässlichste Zeit des Jahres die Zeit zwischen den Jahren. Eingepfercht zwischen die Tragödie des christlich-konsumistischen Familienterrors und die Farce des Jahreswechsels, dessen Zählweise selbst wieder auf die Geburt des Christentums verweist. Während ein Erdjahr sein Maß in der Dauer findet, die die Erde zur Umkreisung der Sonne braucht, ist bereits dessen Anfang und Ende historisch kontingenter. Plausibel wäre der Abstand von einer Tag- und Nachtgleiche zur nächsten. Das Jahr begänne und endete dann um den 20. März oder, wie im Jüdischen Kalender, um den 23. September herum. Tatsächlich legte erst vor etwa 500 Jahren ein Papst den 31. Dezember als Namenstag eines anderen Papstes – Silvester – fest. Aber im wievielten Jahr befinden wir uns? Laut nordkoreanischem Juche-Kalender, der mit der Zeugung Kim Il-sungs beginnt, ist es das Jahr 106, nach Französischem Revolutionskalender das Jahr 226. Im Hebräischen Kalender schreiben wir das Jahr 5778, im Byzantischem Kalender leben wir im Jahr 7526 und im Holozän-Kalender bereits 12017. Die Strecke, die die Erde zurücklegen muss, um die Sonne zu umkreisen, beträgt 940 Millionen km. Sie bewegt sich im Schnitt mit 107 Tausend km/h, also bereits deutlich schneller als die Voyager. Die Sonne wiederum bewegt sich mit einer halben Millionen km/h durch die Galaxie. Bei dieser Geschwindigkeit dauert ein Sonnenjahr, also die Zeit, die die Sonne braucht, um einmal um ihr Gravitationszentrum zu kreisen, 220 bis 240 Millionen Erdjahre. Die ganze Milchstraße, immerhin die zweitgrößte Galaxie der Lokalen Gruppe, bewegt sich mit 1,5 Millionen km/h durch das Universum. Wesentlich langsamer als die Sterne in ihrer Mitte, die mit mehreren Millionen km/h um ein Schwarzes Loch rasen, das sich im Zentrum der Galaxie befindet. The stars look very different today.

Die Revolution, die vor einhundert Erdenjahren den Globus erschütterte, setzte ungesehene Begierden und Phantasien frei. Gruppen wie die Biokosmisten, die aus dem russischen Anarchismus stammen, forderten die Kollektivierung der Zeit. Die Abschaffung der privatisierten Lebenszeit bedeutete zugleich die Überwindung des individuellen Todes. Just walking the dead. Dieses Denken entsprang nicht nur einem Wunsch, es war auch die zwingende Konsequenz einer logischen Gleichung. Wenn Sozialismus die zukünftige Gesellschaft war, die Ausbeutung abschaffte, dann durfte sie nicht auf den Anstrengungen vergangener Sozialistinnen beruhen. Sofern diese Kämpferinnen der Vergangenheit nicht in den Genuss der sozialistischen Gesellschaft kämen, für die sie selbst gekämpft hatten, würde der Sozialismus nämlich auf der Ausbeutung der Vergangenheit durch die Zukunft fußen. Er wäre also kein Sozialismus. Die einzige Möglichkeit, diesen Widerspruch befriedigend aufzulösen, bestand darin, alle Menschen, zumindest alle, die jemals gegen Ausbeutung gekämpft hatten, wieder zum Leben zu erwecken. Damit bekäme die Erde jedoch ein Platzproblem, weswegen die Besiedlung des Weltalls notwendig würde. Die kommunistische Gesellschaft, die angestrebt wurde, war eine interplanetare, interstellare oder sogar intergalaktische. Sie war nicht die erste, nicht die letzte. 4 Lichtjahre / 80.000 Voyagerjahre zum nächsten Stern. Angesichts der Weite des Weltraums werden Menschen offenkundig immer wieder von dem Wunsch befallen, die Grenzen ihres Planeten auszuwischen und die Einsamkeit des Lebens darin zu teilen. Warum auch nicht? Your circuit's dead, there's something wrong. Can you hear me, Major Tom?

 

 

Bini Adamczak lebt in Berlin. Im Frühling 2017 löste die englische Übersetzung ihres Buches Communism for Kids (MIT Press) einen Shitstorm der US-Rechten aus. Zuletzt erschienen von Adamczak Der schönste Tag im Leben des Alexander. Vom möglichen Gelingen der Russischen Revolution (edition assemblage, 2017) und Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende (edition suhrkamp, 2017). Die Theoretikerin ist leidenschaftlich überzeugt vom Primat der Praxis.