The Year 2017
A Collective Chronicle of Thoughts and Observations

Welcome to what is going to be a collective chronicle of the year 2017! This journal will follow the general change that we experience in our daily lives, in our cities, countries and beyond, in the political discourses and in our reflections on the role of artists and intellectuals. Originating from several talks and discussions with fellow artists and thinkers FFT feels the strong need to share thoughts and feelings about how we witness what is going on in the world. Week after week different writers, artists, thinkers and scientists will take the role of an observer as they contribute to this collective diary.

#7: 13. - 19. Februar
Frank Heuel

13. Februar 2017
Wir arbeiten gerade in Istanbul an einem Text des kurdischen Autors Mirza Metin mit dem Titel ZWISCHENHALT/ARA DURAK/RAWESTGEHARAF (D/TR/KUR). Wir – das ist ein Team aus 3 Türke*innen, 3 Kurde*innen und 3 Deutschen. Wir brauchen für alles doppelt so lang, weil einige von uns weder Englisch sprechen noch verstehen. So übersetzen Ceyda, Hazni oder Ekin unser flaches Englisch ins pralle Türkisch und daraus wiederum uns in ihrem einfachen Englisch. Die Kurden verstehen natürlich Türkisch, weil sie eben türkische Kurden sind, die Türken aber wiederum kein Kurdisch. Der Text selber erzählt von drei Männern – einem Türken, einem Kurden und einem Deutschen – die sich an einer Bushaltestelle irgendwo außerhalb einer großen Stadt im Westen des Ostens und im Osten des Westens begegnen und (vergeblich) auf den Bus warten. Sie wollen das Land verlassen, fliehen, weil ein großer Sturm droht. Alle drei sprechen nur ihre jeweilige Muttersprache und dieses auch ganz real auf der Bühne. Wie die Figuren verstehen sich auch die Schauspieler nicht und ständiges Nicht-Verstehen wird gespielt, erlebt, kaschiert, hingenommen oder einfach negiert. Wir lachen viel!

Auf meinen täglichen Wegen hin zur Probe und zurück in meine Wohnung reise ich morgens von Beyoğlu, dem europäischsten Stadtteil Istanbuls (die Stadt im Westen des Ostens und im Osten des Westens) über den Bosporus nach Kadıköy im asiatischen Istanbul und nach der Probe abends wieder zurück nach Europa. Ich höre fast ausschließlich Türkisch, manchmal Arabisch – kaum Englisch und eigentlich kein Deutsch. Im Gegensatz zu vor 12 Monaten – im Januar 2016 habe ich mein Stipendium im Artist-In-Residence Programm der Kunststiftung NRW in Istanbul angetreten – sind keine oder kaum westliche Touristen hier. Angst vor möglichen weiteren Anschlägen! Allein im letzten Jahr gab es 4 schwere Selbstmordanschläge in Istanbul und neben den fehlenden Besuchern fällt mir die ständig steigende Polizeipräsenz in der Öffentlichkeit auf. Bei der Bevölkerung selber zeigen die Anschläge immer auch Wirkung, aber der Militärputsch vom Juli und seine dramatischen Auswirkungen auf das tägliche Leben sind ungleich präsenter und relevanter für die Menschen.

 

14. Februar 2017
Es ist ein irres Tempo auf der so berühmten und doch so enttäuschenden großen Istiklal Caddessi. Einst geplant und gebaut als Flaneurmeile nach französischem Vorbild mit prächtigen Jugendstilgebäuden, vielen Passagen, die tief ins Innere der Gebäude führten und vielen Bäumen vor den Häusern. Etwas davon ist noch an den Fassaden zu erahnen. Ich habe mir zum Einstieg in die Stadt Orhan Pamuks Istanbul-Romane (MUSEUM DER UNSCHULD und DIESE FREMDHEIT IN MIR) vorgenommen, in welchen er sein Beyoğlu in den Siebzigern und Achtzigern beschreibt, und mir so eine Idee von diesem untergehenden Stadtteil verschaffen können.

Heute ist das um alle Bäume gebrachte Bild der Straße geprägt von Zara, Mango, H&M, Starbucks, vielen Telefonläden,... – ein, ich gebe es zu, normaler Prozess der Verwestlichung.

Und trotzdem bleibt die Straße ein zentraler wichtiger Ort – des Treffens, der Versammlung und des Protestes. Die Samstagsmütter – kurdische Frauen, allesamt Mütter, Schwestern und Ehefrauen, die dort seit über 630 Wochen jeden Samstagvormittag, nach ihren vermissten Männern fragend, demonstrieren. Immer beobachtet von Hundertschaften bewaffneter Polizisten all inclusive.

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Auf meinem Weg zur Probe heute war jede Seitenstraße der Istiklal und jede noch so kleine Gasse abgesperrt von einem Großaufgebot an Militär und Polizei. Über den Anlass des Einsatzes konnte ich – vermutlich wie alle anderen Zivilisten – nichts in Erfahrung bringen. Seit meiner kurzfristigen Festnahme im vergangenen Jahr – ich war zwischen die Fronten von Demonstranten und Tränengas-schießender Polizei geraten und erkennungsdienstlich bearbeitet worden – versetzt mich eine erhöhte Polizeipräsens in leichte Alarmbereitschaft. Was mich immer noch wundert, mit welchem Gleichmut und welch großer Unbekümmertheit die türkische Bevölkerung ihren Weg fortsetzt und dieses scheinbar als ganz normal hinnimmt. Mich erschreckt diese Gewöhnung an eine militarisierte Öffentlichkeit.

 

15. Februar 2017
Mich berührt das Schicksal von Aslı Erdoğan sehr. Zur Erinnerung: Aslı Erdoğan ist eine türkische Schriftstellerin, die im September vergangenen Jahres inhaftiert wurde – der Vorwurf lautete: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und ihr droht eine lebenslange Haftstrafe. Ihr wurde zur Last gelegt, dass sie in einer Online-Zeitschrift über die kriegerischen Handlungen in Anatolien gegen die Kurden berichtet hatte. Nach 4 Monaten wurde sie freigelassen – sie besitzt nun keinen Pass mehr, darf/kann das Land nicht verlassen und wartet auf ihren Prozess.

Während meiner ersten Recherche vor 12 Monaten in Istanbul habe ich die Schriftstellerin für mich entdeckt. Ich wollte nachdem ich viel Pamuk gelesen hatte, auch mal eine türkische AutorIN lesen. In dieser extrem männlich dominierten türkischen Gesellschaft fehlte mir bei vielem eine weibliche Stimme/Perspektive. Ich fand dann in der deutsch-türkischen Buchhandlung (ein wichtiger Treffpunkt für viele Leute) in der hintersten Ecke eine Ausgabe von DER WUNDERSAME MANDARIN. Ein weiteres ins Deutsche übersetzte Werk trägt den Titel DIE STADT MIT DER ROTEN PELLERINE. Die Wucht und Radikalität bei gleichzeitiger Sperrigkeit der Sprache hat mich völlig überrascht und sehr interessiert. Ich habe dann versucht, über einen Schweizer Verlag Kontakt mit ihr aufzunehmen – aufgrund ihres angeschlagenen Gesundheitszustandes kam es aber leider zu keinem Treffen.

Aslı Erdoğan war auch in der Türkei keinem großen Publikum bekannt – nun ist sie aufgrund ihrer Inhaftierung zu einer Symbolfigur des Widerstandes gegen die staatliche Willkür geworden. In einem Interview, das sie Ende Januar gegeben hat, sagt sie, dass sie quasi “gegen ihren Willen und Vernunft” so stark mit diesem Land verbunden ist, dass sie es selbst wenn sie es könnte, nicht verlassen wollen würde. Der Grund sei die Sprache – sie brauche den eigenen Sprachraum um sich herum.

 

16. Februar 2017
Ich empfinde hier und gerade in diesen Tagen, wo die Säuberungen auch die Theater an einer ganz sensiblen und wichtigen Stelle – nämlich der Ausbildung erreicht haben, die Nähe von Verzweiflung und Anstand. Anstand in dem Sinne, dass die Künstler ihrer Arbeit weiter nachgehen. Sie haben eine Haltung dem Desaster gegenüber entwickelt und dies im guten Sinne – keine Gewöhnung, sondern ein waches, aufmerksames Agieren im Bewusstsein des Risikos und der Bedeutung ihrer Arbeit. Es ist innerhalb der Arbeit vieles wie bei uns und dann doch so anders.

 

17. Februar 2017
Wir freuen uns auf unsere Premiere heute in Istanbul: ZWISCHENHALT//ARA DURAK//RAWESTGEHARAF von Mirza Metin bezieht sich auf die aktuelle Situation in der Türkei; drei Männer – ein Türke, ein Kurde und ein Deutscher treffen sich auf ihrer versuchten Flucht aus dem Land an einer Bushaltestelle irgendwo außerhalb Istanbuls, unfähig miteinander zu kommunizieren. Wenn ich eins hier während meines mittlerweile insgesamt 8-monatigen Aufenthalts gelernt habe, ist es, dass sowohl die Türken als auch die Kurden trotz des Desasters und aller Verzweifelung darüber immer noch lachen können und es auch gerne tun. Und so ist es auch bei ZWISCHENHALT – es ist voll von absurder Komik.

Dass unser Stück einen Tag später in Deutschland am Residenztheater in München in einer szenischen Lesung dem deutschen Publikum vorgestellt wird, freut uns dann noch einmal mehr.

 

18. Februar 2017
Nach durchfeierter Premierennacht

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scheint heute zum ersten Mal seit Wochen wieder die Sonne und ich habe sie für ein paar Stunden genießen können.

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Die Stadt ist bei all dem Desaster einfach großartig.

 

19. Februar 2017
Der Frühling hat Einzug gehalten. Die Menschen auf den Straßen sind bester Laune.

Die Istiklal ist voll. Die Polizei bewacht nur noch den Toreingang zur katholischen Kirche. Alles scheint gut für einen Moment. Aber es brodelt unter dem Pflaster– die Gesellschaft ist mehr gespalten denn je. Das Referendum über das Präsidialsystem steht Anfang April an und die Türken sind noch zu fast 60% dagegen. Die AKP wird alles (!) versuchen, das zu ändern. Ich bin froh, im März nicht in Istanbul zu sein.

Meine Abreise nach nun insgesamt 8 Monaten verteilt über etwas mehr als ein Jahr steht an. Ich habe viele, sehr viele Menschen kennengelernt, habe einen Einblick in eine Szene bekommen, die mit dem Rücken zur Wand steht und auf viele unterschiedliche Kontakte ins Ausland angewiesen ist. Es kann für sie noch schlimmer kommen. Ich freue mich auf zuhause, diese Stadt kostet auch Kraft und nach drei Arbeiten hier brauche ich die eigene Sprache, die gewohnten Arbeitsbedingungen und mir seit langem vertraute Menschen um mich herum. Aber die Stadt ist auch so faszinierend, dass ich mich freue, wiederzukommen und die gewonnenen Freunde wiederzusehen und ein Nächstes in Angriff nehmen zu können.

 

 

Frank Heuel ist frei arbeitender Regisseur und künstlerischer Leiter des fringe ensemble, Bonn. Seine Produktionen, die zum Teil auch im Ausland entstehen (Lettland, Niederlande, Schweiz, Polen, Ghana und Türkei) werden zu zahlreichen Festivals eingeladen. Mit der Uraufführung von "Zwei Welten" am Theater Bonn, wurde er zum NRW Theatertreffen 2010 eingeladen. Von 2011-2013 war er Mitglied der Künstlerischen Leitung der Schaubühne Lindenfels in Leipzig. 2016-2017 ist er im Rahmen des Artist-in-residence Programm der Kunststiftung NRW in Istanbul. Dort realisiert er mit türkischen Theaterleuten unter dem Projekttitel 4PROJECTS ISTANBUL verschiedene Produktionen – zum Teil unter Beteiligung einiger Schauspieler*innen des fringe ensemble.
www.frank-heuel.de

#1 January 1st - 8th Jacob Wren

#2 January 9th - 15th Toshiki Okadajapanese version

#3 January 16th - 22nd Nicoleta Esinencuromanian version

#4 January 20th - 30th Alexander Karschnia & Noah Fischer

#5 January 30th - February 6th Ariel Efraim Ashbel

#6 February 6th - 12th Laila Soliman

#7 February 13th - 19th Frank Heuel – german version

#9 February 26th - March 5th Gina Moxley

#10 March 6th - 12th Geoffroy de Lagasnerie – version française

#11 March 13th - 19th Agnieszka Jakimiak

#12 March 20th - 26th Yana Thönnes

#13 March 30th - April 2nd Geert Lovink

#14 April 3rd - 9th Monika Klengel – german version

#15 April 10th - 16th Iggy Lond Malmborg

#16 April 17th - 23rd Verena Meis – german version

#17 April 24th - 30th Jeton Neziraj

#20 May 15th - 21st Bojan Jablanovec

#21 May 22nd - 28th Veit Sprenger – german version

#22 May 29th - June 4th Segun Adefila

#23 June 5th - 11th Agata Siniarska

#25 June 19th - 25th Friederike Kretzengerman version

#26 June 26th - July 2nd Sahar Rahimi

#27 July 3rd - 9th Laura Naumanngerman version

#28 July 10th - 16th Tom Mustroph – german version

#29 July 17th - 23rd Maria Sideri

#30 July 24th - 30th Joachim Brodin

#33 August 14th - 20th Amado Alfadni

#35 August 28th - September 3rd Katja Grawinkel-Claassen – german version

#38 September 18th - 24th Marcus Steinweg

#43 October 23rd - 29th Jeannette Mohr

#44 May/December Etel Adnan

#45 December 24th - 31st Bini Adamczak

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10.6. #future politics No3 Not about us Without us FFT Juta

Geoffroy de Lagasnerie Die Kunst der Revolte

21.1. #future politics No1 Speak TRUTH to POWER FFT Juta

Mark Fisher
We are deeply saddened by the devastating news that Mark Fisher died on January 13th. He first visited the FFT in 2014 with his lecture „The Privatisation of Stress“ about how neoliberalism deliberately cultivated collective depression. Later in the year he returned with a video-lecture about „Reoccupying the Mainstream" in the frame of the symposium „Sichtungen III“ in which he talks about how to overcome the ideology of capitalist realism and start thinking about a new positive political project: „If we want to combat capitalist realism then we need to be able to articulate, to project an alternative realism.“ We were talking about further collaboration with him last year but it did not work out because Mark wasn’t well. His books „Capitalist Realism“ and „The Ghosts of my Life. Writings on Depression, Hauntology and Lost Future“ will continue to be a very important inspiration for our work. 

Podiumsgespräch im Rahmen der Veranstaltung "Die Ästhetik des Widerstands - Zum 100. Geburtstag von Peter Weiss"

A Collective Chronicle of Thoughts and Observations ist ein Projekt im Rahmen des Bündnisses internationaler Produktionshäuser, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

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