The Year 2017
A Collective Chronicle of Thoughts and Observations

Welcome to what is going to be a collective chronicle of the year 2017! This journal will follow the general change that we experience in our daily lives, in our cities, countries and beyond, in the political discourses and in our reflections on the role of artists and intellectuals. Originating from several talks and discussions with fellow artists and thinkers FFT feels the strong need to share thoughts and feelings about how we witness what is going on in the world. Week after week different writers, artists, thinkers and scientists will take the role of an observer as they contribute to this collective diary.

#35: 28. August – 3. September
Katja Grawinkel-Claassen

28.8. – 3.9.

Mütter

Ich habe eine Liste von Mutterfiguren in Film und Fernsehen gemacht, die ich interessant bis beeindruckend finde. Sie ist erstaunlich kurz. Angeführt wird sie von Miranda aus „Sex and the City“: alleinerziehend, Anwältin, mit Nanny und Haushälterin. Meine Lieblingsszene zeigt sie, wie sie sich schweren Herzens entscheidet, bei der Arbeit kürzer zu treten, um mehr Zeit für ihr Kind zu haben. Miranda zu ihrem Boss: „I have to cut way back... to 50 hours a week... 55 tops!“ Es folgen Lorelai Gilmore aus „Gilmore Girls“ (Königin der Kindergeburtstage) und Carol aus „The Walking Dead“ (einzige Überlebende der Zombie-Apokalypse in ihrer Familie). Als ich lange überlege, fällt mir noch Rita aus der Serie „Dexter“ ein, die zwei Kinder mit einem prügelnden Ex-Ehemann hat, eins mit einem sympathischen Serienkiller und die dann (Achtung Spoiler!) von einem unsympathischen Serienkiller umgebracht wird.

 

Der Mond ist aufgegangen

Seit das Baby da ist, kann ich mir Dinge vorstellen, an die ich vorher nie oder schon lange nicht mehr geglaubt habe. Zum Beispiel, dass der Vollmond das Befinden von uns Menschen beeinflusst. (Eine andere Erklärung habe ich nicht dafür, dass das Baby ein paar Tage lang zum Gotterbarmen geschrien hat und dann wieder ganz friedlich war.) Ich habe mir auf einem Spaziergang die Gottesdienstzeiten der Gemeinde fotografiert, zu der unsere Nachbarschaft gehört. Am Sonntag findet da ein „Poetischer Abendgottesdienst“ statt. Mal sehen, ob ich den vor dem TV-Duell besuche. Vielleicht werde ich dann auch wieder textsicherer, was bekannte Lieder angeht. Die meisten Schlaflieder haben irgendwie mit Gott zu tun. Wenn nicht in der ersten Strophe, dann meistens schon in der zweiten, weniger bekannten. Ich kenne immer nur die ersten paar Zeile von jedem Lied: Der Mond ist aufgegangen..., Guter Mond, du gehst so stille durch die Abendwolken hin..., Weißt du, wie viel’ Sternlein stehen, an dem großen Himmelszelt... Ich habe angefangen, die vollständigen Texte zu googlen und auswendig zu lernen. (Sonst langweilt man sich spätestens beim 20. Mal selbst.) Sehr überraschend, wie religiös die meisten weitergehen – und wie brutal zum Teil. Aber ich bin auch auf einen sehr schönen Text gestoßen, die x-te Strophe von „Der Mond ist aufgegangen“:

Siehst du den Mond da stehen?
Er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön.
So geht’s mit manchen Sachen,
die wir getrost belachen,
weil uns’re Augen sie nicht seh’n.

Dem Baby gefällt das Lied. Mir auch.

 

Boys don't cry

Das Baby ist ein Junge. In der letzten Woche vor seiner Geburt habe ich noch das Buch Boys don’t cry (Untertitel: „Identität, Gefühl und Männlichkeit“) von Jack Urwin gelesen. Demnach gehört das Kind zu einer gefährdeten Spezies. Männer sterben statistisch gesehen früher, werden häufiger zu Opfern (und Tätern) von Gewalt, landen öfter im Gefängnis und begehen häufiger Selbstmord. Ich habe auch den Eindruck, kleine Jungen sind fast noch stärker eingeschränkt als Mädchen. Es gibt viel mehr Farben, Berufswünsche oder Karnevalskostüme, die für sie Tabu sind. „Man wird nicht als Mann geboren, man wird dazu gemacht“ oder so. Naja, dafür kann mein Baby davon ausgehen, dass es einmal mehr verdienen wird, als seine zukünftigen ehemaligen Spielkameradinnen. Ich nehme mir vor, mir ein Buch über geschlechtersensible Erziehung zu besorgen (am besten als Hörbuch). In der Drogerie gibt es drei verschiedene Zweierpacks mit Schnullern: rosa mit Herzen und Schmetterling, blau mit Eisbär und Sternchen und grün-weiß mit Häschen und Punkten. Ich kaufe alle drei und verteile die Schnuller an allen strategisch wichtigen Punkten in der Wohnung (Bett, Wickeltisch, Wiege, Sofa, Spülmaschine). Für den Fall, dass das Baby weint und schnell einer zur Hand sein muss.

 

Still!

Ich stille das Baby. (Deshalb finde ich diesen flammend politischen ZEIT-Artikel zum Thema auch erst am Samstag, als das Baby gemütlich bei seinem Vater liegt und ich einen Moment für mich habe.) Sieben bis zehn Mal am Tag und in der Nacht. An den heißen Tagen dieser Woche manchmal jede Stunde. In einer Wartezimmer-Zeitschrift füllt eine Auflistung der Nährstoffe, die in Muttermilch enthalten sind, eine halbe Seite – daneben die Nährstoffe in industrieller Babynahrung in einer schnöden Spalte. Kapiert: Stillen ist gesund. Und es ist ein öffentlicher Akt, selbst wenn es zu Hause auf dem Sofa stattfindet. Ich darf stolz auf mich sein, dass ich stille. Frauen, die sich dagegen entscheiden oder bei denen es nicht klappt, sollen sich schämen. My body, my rights! My ass...

 

Babylove

Auf Baby- und Mama-Produkten sind immer diese Fotos von strahlenden, frisch geduschten Müttern mit ihren sauberen, glücklichen Babys abgedruckt. (Wie entstehen solche Bilder eigentlich?) Ich stelle mir vor, diese Bilder würden ausgetauscht und überall wären kleine schreiende Baby-Gesichter drauf. Hoch rote Köpfe, aufgerissene Mündchen, zornige Blicke. Das ist das Bild, mit dem ich jetzt oft abends einschlafe. Mein Baby lächelt auch, es übt sogar manchmal zu lachen, aber viel regelmäßiger schreit es aus voller Kehle und ich interpretiere herum: Hunger, müde, Bauchweh, Vollmond? Je nach Tages- oder Uhrzeit, weiß ich, was zu tun ist – oder auch nicht. Und immer habe ich ein schrecklich schlechtes Gewissen, wenn der Interpretationsvorgang zu lange dauert oder mir einfach nichts einfällt, was ich dem Weinen entgegensetzen kann. Ich frage mich dann immer, ob das bei Anderen auch so ist und bin mir sicher, das einzige schreiende Baby in einer Welt voller zuckersüßer Püppchen zu haben. Kreisch-Fotos auf Stilleinlagen, Milchpumpen und Baby-Broschüren würden mir sehr helfen.

 

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Wahl-Oh!-Mat

Das Baby schläft. Ich stürze ein Abendbrot herunter (Man weiß nie, wie lange der friedliche Zustand anhält.) und klicke mich durch den „Wahl-O-Mat“. „Kindergeld soll nur an deutsche Familien ausgezahlt werden“ (So’n Quatsch.) „Kinder sollen gegen ansteckende Krankheiten geimpft werden“ (Natürlich.) „Eltern sollen für ihre Kinder bis zum Ende der Grundschulzeit einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung erhalten.“ (Ja, bitte! Und die professionelle Vollzeit-Betreuung soll bitte in Gold aufgewogen werden.) Am Ende habe ich 85% Übereinstimmung mit der Partei, die bei mir immer oben ist (und die vermutlich keine Schnitte hat) und erschrecke mich über die 31% Übereinstimmung mit der AfD. Wahrscheinlich ist es so, wie eine Freundin meiner Mutter (Schuldirektorin, SPD-Mitglied, Vorbild) gesagt hat: Man findet mit keiner Partei eine 100%-ige Übereinstimmung. Und wohl auch keine 100%-ige Abgrenzung.

 

Tihange

Ich höre jetzt viel mehr Radio. Man hat die Hände frei und kann beim Auf- und Ablaufen in der Wohnung Nachrichten hören. Wenn das Baby auf meinem Bauch einschläft und Handy, Buch, Zeitung und Laptop gerade außer Reichweite sind, bekomme ich trotzdem ein bisschen Unterhaltung und Information. So habe ich diese Woche wieder viel über die Diesel-Affäre gehört; es wurden erstaunlich häufig Experten zum Thema Mimik befragt (um am Sonntag beim TV-Duell zur Bundestagswahl nicht nur auf das achten zu können, was gesagt wird, sondern auch die geheimen Botschaften entschlüsseln zu können); am Mittwoch wurde über die Einschulung diskutiert (Scheinbar verkommt der 1. Schultag zu einem Familien-Event mit Clown und Torte und die Schulen müssen anordnen, dass die i-Dötzchen nur eine Schultüte mitbringen dürfen.) und schließlich die Nachricht, die mir nicht aus dem Kopf will: Im Raum Aachen (also nebenan) werden jetzt kostenlos Jod-Tabletten verteilt, damit die Menschen im Fall eines atomaren Unfalls im Kraftwerk Tihange in Belgien wenigstens gegen eine Sorte Krebs gewappnet sind. Als ich ein Baby war, ist die Reaktor-Katastrophe in Tschernobyl passiert. Als Kind hatten wir im Sommer immer eine Feriengruppe von Kindern aus der verseuchten Region zu Gast. Die Kirchengemeinde organisierte den Kuraufenthalt für sie. Viele der Kinder sind heute tot.

 

Väter

Als wir in die Christuskirche kommen (Mit dem Baby bin ich jetzt regelmäßig unpünktlich.), wird gerade „Father and son“ gesungen. „It’s now time to make a change. Just relax, take it easy.“ Das Thema des Abends ist „Väter“. Musikalisch mit Pearl Jam, Erste Allgemeine Verunsicherung und eben Cat Stevens. Aber auch „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. An einem sonnigen Spätsommerabend mit Straßenfest in der Nachbarschaft und Wahl-Duell im Fernsehen sitzen in der Kirche etwa so viele Leute, wie im Theater zu erwarten wären. Der Pfarrer spielt Saxophon und trinkt Fritz-Brause, ein Grauhaariger in der letzten Reihe quatscht immer dazwischen, drei Kinder spielen, quaken, staunen oder schlafen. „Wenn jemand eine Einschlafhilfe braucht, empfehle ich das Wahl-Duell“, sagt der Pfarrer (etwa mein Alter) zum Abschied. Und so ist es dann auch. Ich muss an das Wort „Landes-Vater“ denken – beziehungsweise Landes-Mutter. Allen Umfragen nach wird es ja Letzteres werden und bei der nächsten Wahl ist das Baby schon vier Jahre alt.

 

 

Katja Grawinkel-Claassen ist Dramaturgin mit Schwerpunkt Audience Development am FFT Düsseldorf und nimmt Lehraufträge an der Hochschule Düsseldorf und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf wahr. Sie arbeitete mit der deutsch-schweizerischen Theatergruppe Schauplatz International, als Autorin unter anderem für taz, Freitag und den Hörfunk. Zuvor studierte sie Medien- und Kulturwissenschaft in Düsseldorf und Potsdam. Nach der Geburt ihres Sohnes befindet sich Katja zur Zeit in „Elternzeit“.

#1 January 1st - 8th Jacob Wren

#2 January 9th - 15th Toshiki Okadajapanese version

#3 January 16th - 22nd Nicoleta Esinencuromanian version

#4 January 20th - 30th Alexander Karschnia & Noah Fischer

#5 January 30th - February 6th Ariel Efraim Ashbel

#6 February 6th - 12th Laila Soliman

#7 February 13th - 19th Frank Heuel – german version

#9 February 26th - March 5th Gina Moxley

#10 March 6th - 12th Geoffroy de Lagasnerie – version française

#11 March 13th - 19th Agnieszka Jakimiak

#12 March 20th - 26th Yana Thönnes

#13 March 30th - April 2nd Geert Lovink

#14 April 3rd - 9th Monika Klengel – german version

#15 April 10th - 16th Iggy Lond Malmborg

#16 April 17th - 23rd Verena Meis – german version

#17 April 24th - 30th Jeton Neziraj

#20 May 15th - 21st Bojan Jablanovec

#21 May 22nd - 28th Veit Sprenger – german version

#22 May 29th - June 4th Segun Adefila

#23 June 5th - 11th Agata Siniarska

#25 June 19th - 25th Friederike Kretzengerman version

#26 June 26th - July 2nd Sahar Rahimi

#27 July 3rd - 9th Laura Naumanngerman version

#28 July 10th - 16th Tom Mustroph – german version

#29 July 17th - 23rd Maria Sideri

#30 July 24th - 30th Joachim Brodin

#33 August 14th - 20th Amado Alfadni

#35 August 28th - September 3rd Katja Grawinkel-Claassen – german version

#38 September 18th - 24th Marcus Steinweg

#43 October 23rd - 29th Jeannette Mohr

#44 May/December Etel Adnan

#45 December 24th - 31st Bini Adamczak

titel1

10.6. #future politics No3 Not about us Without us FFT Juta

Geoffroy de Lagasnerie Die Kunst der Revolte

21.1. #future politics No1 Speak TRUTH to POWER FFT Juta

Mark Fisher
We are deeply saddened by the devastating news that Mark Fisher died on January 13th. He first visited the FFT in 2014 with his lecture „The Privatisation of Stress“ about how neoliberalism deliberately cultivated collective depression. Later in the year he returned with a video-lecture about „Reoccupying the Mainstream" in the frame of the symposium „Sichtungen III“ in which he talks about how to overcome the ideology of capitalist realism and start thinking about a new positive political project: „If we want to combat capitalist realism then we need to be able to articulate, to project an alternative realism.“ We were talking about further collaboration with him last year but it did not work out because Mark wasn’t well. His books „Capitalist Realism“ and „The Ghosts of my Life. Writings on Depression, Hauntology and Lost Future“ will continue to be a very important inspiration for our work. 

Podiumsgespräch im Rahmen der Veranstaltung "Die Ästhetik des Widerstands - Zum 100. Geburtstag von Peter Weiss"

A Collective Chronicle of Thoughts and Observations ist ein Projekt im Rahmen des Bündnisses internationaler Produktionshäuser, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

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